Bei Behinderten und Buddhisten
Heike Michel betrat Neuland – für sich und für die Mongolei

Von H.H. Loepernik


Nach dem zwangsweisen Umzug im Sommer das nunmehr letzte Büro von AIFO 
– Heike Michel sieht sich inzwischen nach einem Job um

Jedes Mal, wenn der russische Geländewagen ein Schlagloch ausmisst, schreckt die junge Frau kurz auf. Dann fallen die Augen wieder zu und der Kopf nach vorn. Der Asphalt nach Arwaikheer wird wieder eben, und Enkhbuyant, der Fahrer, tritt das Gaspedal wieder durch. Bis zum nächsten Schlagloch. Der Schlafbedarf kommt nicht von ungefähr. Zehn-Stunden-Tage sind für Heike Michel keine Seltenheit, der Streit mit Behörden nervt, und an diesem Morgen streikte der Aufzug. Das hieß, zweimal per pedes hinauf in den 12. Stock, um das Gepäck für eine Woche Arbeiten und Leben in der Steppe in den Jeep zu packen.

Vor mehr als 30 Jahren kam Heike Michel zum ersten Mal in das unbekannte Land hinter dem Baikalsee. Mit der Mutter und den beiden Brüdern war sie dem Vater gefolgt, der damals wie Hunderte Arbeiter aus der DDR beim Aufbau des Fleischkombinats Ulaanbaatar mithalf. Die Erinnerungen an zwei Jahre ihrer Kindheit sind spärlich. Aber tief geprägt haben sie das Mädchen doch. Nach dem Abitur ließ sich Heike an der Humboldt-Universität (HUB) für Mongolistik immatrikulieren. Da mit der Mongolischen Staatsuniversität war vereinbart worden war, dass Heike mit drei weiteren Studenten drei Jahre in Berlin und zwei Jahre in Ulaanbaatar studieren sollte, kehrte sie 1985 zurück in dieses fast wieder unbekannte Land, um ihr mongolisches Diplom zu machen. „Glücklicherweise wurde das nach der Vereinigung anerkannt“, sagt sie. So konnte sie weiter als Dolmetscherin im Hochschuldienst und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni arbeiten.

Nach dem Sommersemester 1996 kam die Abwicklung, auf die Heike schon lange vorbereitet war. Als Reiseleiterin und Mongoleiexpertin für zahlreiche Touristengruppen und für Expeditionen deutscher Geographen- und TV-Teams hatte sie reichlich Erfahrungen sammeln können. Ihr erster fester Job nach der Uni? „Während einer Projektfindungsmission für die belgische NGO ‚Iles de Paix’ versuchten wir ein Agrarprojekt vorzubereiten, das mongolische Kleinstbetriebe beim Gemüseanbau unterstützen sollte. Leider kam das nicht zu Stande.“

Auf der Suche nach neuen Herausforderungen traf Heike Michel 1997 auf die internationale NGO „Associazione Amici di Raoul Follereau“ (AIFO), die verzweifelt einen Projektmanager für ihre mongolische Filiale suchte. AIFO sieht seine Aufgabe darin, Behinderte in aller Welt aus dem Außenseiterdasein in die aktive Gesellschaft zu holen. Absolutes Neuland für die junge Frau, das sie sich mit intensiver Weiterbildung erschloss.

Am frühen Nachmittag hält der Jeep in Arwaikheer vor dem Hotel „Alt Owoo“. Kurze Inspektion: Absolut akzeptabel für die Crew, immerhin gibt es sogar eine funktionstüchtige Toilette und fließendes kaltes Wasser. “Ist doch ausgezeichnet hier“, meint Heike, „etwas Besseres kriegen wir auf der ganzen Tour nicht.“ Dann bricht sie auf zur Gesundheitsbehörde des Bezirks, während ihre beiden Reha-Ärzte Frau Dr. Bolor und Herr Dr. Dambajantsan ebenfalls ihre Unterlagen greifen und ein Jurtenviertel ansteuern, wo sie Familien betreuen.

In der Behörde hat die Managerin „ihr“ Komitee getroffen. „Das sind Leute aus Bildung, Sozial- und Gesundheitswesen, die alle mit Behinderten zu tun haben. Mit denen reden wir darüber, wem sie wie helfen und wie die bisherigen Hilfen angeschlagen haben.“


Nachdenken über die Projektmöglichkeiten nach Förderungsende 
(vl.n.r. Dr. Dambajantsan, Dr. Bolor, Sekretärin Tugi, Heike Michel)

Rehabilitation von Behinderten unter Einbeziehung der Kommunen, von der WHO mitgestaltet als „Community Based Rehabilitation“ (CBR), war in der Mongolei noch unbekannt. “Da müssen alle umdenken – Behörden, Mediziner, die Betroffenen selbst und deren Angehörige“, betont Heike. In Europa gibt es Prothesentechnik seit den 20er Jahren „Hier mussten erst wir das Bewusstsein dafür entwickeln, dass es überhaupt Behinderte gibt und dass diese auch ein Recht auf ein aktives Leben haben.“ Kein leichtes Unterfangen in einem Land, in dem Behinderte als Randgruppe behandelt und sogar versteckt werden. In der Behörde liefert sie Broschüren für Ärzte ab mit Ratschlägen, wie zum Beispiel Patienten nach einem Schlaganfall wieder Bewegungsfähigkeit erlangen können.

Als AIFO 1991 begann, das Projekt in der Mongolei aufzubauen, hatten die Ärzte kaum etwas von Behinderungen gehört, konnten keine Diagnosen stellen und Behinderungen nicht unterscheiden. „Deshalb machen wir mehrmals im Jahr Seminare. Doch was wir damit erreichen, ist eher oberflächlich. Intensiv helfen können wir nicht. Die Ärzte bekommen gerade einen Eindruck, wie man Behinderten helfen kann.“ Schnelle Erfolge seien nicht zu erwarten. „Das dauert Jahre. Zumal den Ärzten die Arbeit mit Behinderten nicht honoriert wird. Außerdem fehlt es an Fahrzeugen für Patientenbesuche haben, doch die sind bei den großen  Entfernungen absolut notwendig. So beschränkt sich unsere Arbeit hauptsächlich auf die theoretischen Grundlagen. Physiotherapeuten gibt es keine, also schulen wir die Ärzte, übersetzen und publizieren Materialien, die meist von der WHO stammen. Auf leicht verständlichem Niveau, so können sie auch Familien verstehen und anwenden.“

„Behinderten-Werkstatt – unterstützt von AIFO“ steht auf der Tafel vor einem älteren Flachbau in Bayankhongor, einem Bezirkszentrum. Hier gibt es eine Mineralschleiferei, zwei Schuster, einen Kesselschmied, eine Schneiderei, eine Bäckerei und einen Teppichknüpfer. „Einige Gewerke sind neu wie die Anfertigung von Orthosen. Die haben wir mit Kleinstkrediten gefördert“, erzählt die Managerin.

„Manchmal kaufen wir gleich Ausrüstungen. Ein stark gehbehinderter Tischler in der Südgobi war sehr glücklich, dass er für 100 US-Dollar Werkzeug und eine Tischkreissäge bekam und zudem noch 50 US-Dollar für Material.“ Holz ist den meisten Bezirken der Mongolei knapp. Doch dort brauchen die Leute auch Türen, Möbel und Jurtenmaterial. „Vom Erlös kann der Mann wieder Holz bestellen“, fügt die Managerin hinzu. Pro Bezirk hat AIFO 1500 bis 2000 US-Dollar zur Verfügung. Über die Kreditvergabe entscheiden Komitees in den Bezirken, die Empfehlungen sollen aus den Dörfern kommen, die oft 150 Kilometer und weiter entfernt sind. „Das alles steht und fällt mit der Kommunikation und dem Engagement der Menschen an der Basis.“

Mit Material von AIFO lernte der Tischler, Krücken zu bauen. „Behinderte Schneider, Schuster und Schmiede produzieren jetzt Hilfsmittel für andere Behinderte“, erzählt die Deutsche, deren Topf zu 48 Prozent aus einem EU-Fonds zur direkten Unterstützung von NGO gespeist wird. AIFO versucht auch, Schul- und Berufsbildung zu fördern, organisiert selbst Lehrgänge für die Herstellung einfacher orthopädischer Hilfsmittel „Damit diese Menschen einen Sinn im Leben finden und lernen, lokale Ressourcen zu nutzen.“

Bis Behinderte aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, ist noch viel Engagement und Aufklärung vonnöten. Einen Weg, gesunden Menschen die Fähigkeiten Behinderter vor Augen zu führen, hat AIFO mit seinem Kalender beschritten. Dieses Jahr sind zum Beispiel zwei taubstumme Mädchen aus Bajankhongor abgebildet, die orthopädische Schuhe anfertigen, und ein taubstummer Schmied, der für Bewohner seines Dorfs im Bezirk Uws Öfen, Kerzenständer und andere Metallgegenstände für die Jurte herstellt. Grund zum Stolz liefert auch das 12jährige Mädchen mit spastischer Lähmung aus Bulgan, das dank AIFO von Klassenkameraden jeden Tag zur Schule und wieder nach Hause gebracht wird.

Doch vieles liegt noch im Argen! Nach Aussage der Projektchefin hat es ihre kleine NGO bei der Zusammenarbeit mit der Regierung viel schwerer als Vertreter von Ländern, die mit großen Budgets auch größere Wünsche der Regierung nach hochmodernen Ausrüstungen erfüllen. Neue Schwierigkeiten sind programmiert, wenn 2002 die EU-Zuschüsse weg fallen und sich AIFO nur noch aus privaten Spenden finanziert. Zumal der mongolische Staat für dieses Projekt nicht einen einzigen Tugrik beigesteuert hat. Erfahren musste Heike Michel auch, dass es zwar pro Monat etwa 11 000 bis 12 000 Tugrik Beihilfe (ein Kilogramm Fleisch kostet 700 bis 900 Tugrik) für Menschen mit schweren Behinderungen geben soll, aber Familien mit behinderten Kindern unter 16 Jahren keine Unterstützung erhalten. Auch steht Behinderten hier laut Sozialgesetz nur einmal eine kostenlose Prothese zu, „obwohl die mehrmals im Leben gewechselt werden muss“.

Die ungewisse Zukunft des Projekts vor Augen, sieht es Heike Michel als „großen Erfolg, dass es in der Bevölkerung zumindest partiell jetzt Akzeptanz und Sensibilität für Behinderte gibt“. Was sicher damit zusammen hängt, dass man in der Mongolei schnell selbst zum Behinderten werden kann. „Hier ist die Chance, wegen falscher Behandlung zum Pflegefall zu werden, viel größer als in Europa, weil das Niveau der medizinischen Versorgung einfach so niedrig ist.“

Gern wurde die Deutsche in diesem Bereich weiter arbeiten. „Es muss nicht unbedingt in der Mongolei sein, obwohl mir dieses Land längst zur zweiten Heimat geworden ist“, meint sie beim Halt in Tsetserleg, der Hauptstadt von Arkhangai, einem der schönsten Bezirke des Landes. Auf dem Fußboden eines Raums der Gesundheitsbehörde richtet sich das Team auf mitgebrachten Iso-Matten und Schlafsäcken für die Nacht ein. Frau Bolor und Herr Dambajantsan kehren von den Besuchen in Häusern, Hütten und Jurten zurück. Sie wollen noch reden darüber reden, welche Fortschritte die Familien beim Umgang mit den Patienten gemacht haben und was noch getan werden kann.

Ihre Feierabendbeschäftigung nennt Heike Michel „Zweitprojekt“. Daran ist auch die Heinrich-Böll-Stiftung beteiligt. „Unter Leitung eines tibetischen Mönches, der das indische Norbulinka-Institut vertritt, bemühen wir uns, buddhistisches Wissen und Kultur, das in den vergangenen Jahrzehnten verloren gegangen ist, in der Mongolei wieder zu verbreiten.“ Hier sitzt sie oft abends mit geistlichen Intellektuellen, aber auch Akademiemitgliedern und Lehrkräften staatlicher und privater Hochschulen in einem Redaktionskollegium zusammen. „Dabei habe ich neuen Zugang zu gesellschaftlichen Hintergründen gefunden und bleibe mit meinem eigentlichen Beruf in Verbindung.“

Langweilig ist das Leben in dem fernen Land nie, und an die Universität sehnt sie sich nicht zurück. „Hier ist längst meine zweite Heimat, hier bin ich unabhängig, hier werde ich bestimmt noch länger gebraucht, und an Probleme bin ich gewöhnt.“ In diesem Jahr musste zum Beispiel AIFO dreimal den Standort wechseln, weil die Besitzer der Räume wechselten.“ 

Manchmal holt Heike Michel auch am Wochenende den Jeep aus der Garage. Etwa 25 000 Kilometer, steinig, staubig, schlammig kommen auf den Dienstfahren zusammen. Nur 10 bis 15 sind es bis in die nächste Umgebung von Ulaanbaatar. Dort steht ihr Akku: Sonne im Überfluss, keine Abgase, kein Lärm, Natur pur im Sommer wie im Winter. „Hier kann ich die Kräfte, die in der Arbeit verbraucht werden, am besten wieder aufladen. Auch eine gehaltvolle Hammelsuppe ist nur bedingt eine Lösung.“

"Mit freundlicher Genehmigung des "Neuen Deutschland" - veröffentlicht am 16./17.Dezember 2000"


   

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